Die Dame kann einfach nicht den Schnabel halten. „Möwe“ habe man sie schon als Kind genannt, weil sie kein weggeworfenes Pausenbrot liegen lassen konnte, erzählt Sofia.
Herbert findet den komischen Vogel auf seiner Parkbank verdammt lästig, zumal sein Lebenshunger ziemlich reduziert ist. „Das Alter ist eine der größten Überraschungen des Lebens“, meint Sofia. Und sie mag Überraschungen.
Weshalb sie auch keine Zeit hat, sich um die vergehenden Jahre zu kümmern. Hungrig auf das Leben und seine schönen Momente ist sie immer noch und hat folglich zugeschnappt, als Carl (charmant im Hintergrund: Daniel Buder) sie auf seinen einsamen alten Onkel Herbert ansetzte. Als der gescheiterte Komponist, der mit Werbung für Tomatensuppen sein Geld verdiente, von dieser fürsorglichen Maßnahme erfährt, hat die reizende Möwe sich jedoch schon ebenso in seiner Junggesellenwohnung eingenistet wie in seinem verstockten Herzen.
Die entzückende Komödie Möwe und Mozart von Peter Limburg ist eine federleichte Liebesgeschichte zweier Senioren, voller unverschämtem Witz und mit genau dem kleinen Schuss Bitterkeit, ohne den das späte Glück nicht wirklich genießbar ist. Im Contra-Kreis hat dessen Chef Horst Johanning das zauberhafte Boulevard-Märchen einfühlsam und pointensicher inszeniert. Der verbale Schlagabtausch im Herbstlaub-Bühnenbild von Thomas Pfau funktioniert brillant. Zumal da ein Paar (beide auch real über Siebzig) agiert, das mit koketter Selbstironie und fabelhafter Präzision alle Sprachspiele auf Hochglanz poliert und furchtlos über die Gebrechen des Alters hinwegtanzt. Traumschiffstar Heide Keller ist die muntere Möwe Sofia, die flugs die Adresse des alten Herrn herauskriegt, die Uhren vor seinem geplanten Opern besuch (die Karte war sowieso längst verfallen) ein wenig zurückstellt, ihn mit einem Mobiltelefon (ihre eigene Nummer ist schon einprogrammiert) versorgt und auch sonst die Regie des reizenden erotischen Abenteuers übernimmt. Im Seniorenheim Rosen pflegen (Arthrosen, Sklerosen usw.) – Nein danke! Im flotten schulterfreien Ausgehkleid (Kostüme: Brian Grosen / Anja Saafan) sieht sie wirklich so zum Anbeißen aus, dass selbst Herbert seinen Mozart vergisst. Dessen Requiem hört der notorische Melancholiker gern beim Aufräumen seiner Bude.
Walter Gontermann spielt wunderbar vielschichtig den verkorksten Musiker, der nach einer inspirierten Nacht auch mal Gershwin statt Mozart auf seinem Piano klimpert. Ganz vorsichtig lässt er die robuste Schale aufbrechen, die eine verletzte Künstlerseele verbirgt. Auch den Grund dafür, dass seine große „Nebel-Sinfonie“ nie fertig wurde. Das Leben hat Herbert und Sofia gelegentlich übel mitgespielt, was aber kein Grund ist, es nicht noch mal zu versuchen.
Selbst im Rollstuhl lässt eine tapfere Möwe die Flügel nicht hängen. Und wenn das Lebensflämmchen bedrohlich ins Flackern gerät, gibt’s ja Mozart. Der ist nicht mal halb so alt geworden, wie Herbert nun ist. Insofern kann dieser sich noch was zutrauen. Zum Beispiel ein schönes Augenblicksglück, dessen Verweilen zwar bekanntlich kurz ist, aber mit einer zärtlichen Möwe beinahe unendlich.
Herzlicher Beifall bei der ausverkauften Premiere für ein ungetrübtes Theaterglück, das ohne Ausrutscher unter die Gürtellinie respektvoll sympathisch Menschen zeigt, die jenseits der Lebensmitte noch lustvoll mitten drin bleiben.
Kultur, Magazin der Theatergemeinde Bonn Nr. 110, November 2014
von Elisabeth Einecke-Klövekorn